ÜBERLIEFERUNG:
1 (L, 74,20): 134A, 262[280]C, 51E. 2 (L 75,9): 135A, 263[281]C, 52E. 3 (L
74,28): 136A, 264[282]C, 53E. 4 (L 75,17): 138A, 373[389]C. 5 (L 75,1): 137A,
372[388]C, 54E. Die Folge der Strophen 1-3 ist in allen Handschriften identisch,
Strophe 4 ist in E nicht überliefert, in C stehen Strophe 4 und 5 getrennt von den
anderen, aber in gleicher Reihenfolge wie in A. Die Umstellung der beiden Strophen
erfolgt aus inhaltlichen Gründen. Text nach C.
ERLÄUTERUNGEN:
Zentrales Problem der Forschung ist die Ordnung der Strophen in diesem Lied, vor
allem die Stellung von Strophe 2 (Frowe, ir sît sô wolgetân). Grund dafür ist, daß
der Sprecher dem Mädchen bereits in Strophe 1 einen Kranz anbietet und dies in
Strophe 2, was als unlogisch oder als überflüssige Wiederholung erschien, erneut
tut. Die „Crux mit den zwei Kränzen“ (Wapnewski) wurde daher auf verschiedene
Weise zu lösen versucht. So verband Kraus mit der Umstellung der Strophen 2 und 3
die Annahme, daß in der so hergestellten Folge die dritte Strophe den Übergang auf
eine neue Ebene einleite, den Übergang von einer Wach- in eine Traumwelt. Später
folgte er dem zunächst von ihm abgelehnten Vorschlag, die Strophe Frowe, ir sît sô
wolgetân als Frauenstrophe zu lesen. So ergab sich die (auch von Wapnewski
angenommene) Folge: 1. Kranzangebot des Mannes, 2. Annahme des Kranzes durch das
Mädchen, 3. Kranzangebot des Mädchens. Wenn auch die Eliminierung eines Taktes im
ersten Vers der Strophe wegen metrischer Überfüllung vertretbar erscheint, so
bleibt die damit begründete Auslassung von frowe und die Umdeutung der Strophe 2
gegen die gesamte Überlieferung in eine Frauenstrophe problematisch. Vor allem im
Blick auf die erotische Bedeutung der Kranzmetapher ist die Vorstellung eines
gegenseitigen Kranzgeschenks zumindest ungewöhnlich. Zwar ist es eine gängige
Vorstellung, daß ein Mädchen ‚ihren Kranz‘ verschenkt, aber daß die Aufforderung
zum ‚Blumenbrechen‘ (deflorare) dem Mädchen zugewiesen wird, ist wegen der
geschlechtsspezifischen Prägung der Metapher eher selten (vgl. z.B. Reinmar, Nr.
154,4,5f.). Es ist im übrigen fraglich, ob von einer ‚Wiederholung‘ überhaupt
gesprochen werden kann oder ob nicht besser von einer ‚Wiederaufnahme‘ des
Kranzangebots im Sinne einer auf dem Prinzip der Steigerung basierenden
Entfaltungstechnik die Rede sein sollte, die in sich durchaus schlüssig ist. Wenn
der Sprecher der Tänzerin seinen ‚Kranz‘ zunächst mit den Worten offeriert, er
würde ihr am liebsten eine mit Edelsteinen besetzte Krone schenken (Strophe 1), so
wird dies dann durch den Hinweis erläutert, daß er ihr, da er eine Krone nun
einmal nicht besitzt, wenigstens den schönsten Kranz schenken will, über den er
verfügt (Strophe 2). Erst die Wiederaufnahme des Kranzangebots wird, mit der
Evokation des traditionellen Lustortes und der Aufforderung, Blumen pflücken zu
gehen, zum Anlaß, die erotische Bedeutung der Kranz-Metapher voll zu entfalten.
Damit wird ein Verstehensmodus eröffnet, durch den die Annahme des Kranzangebots
(in Strophe 3) als Annahme einer sexuellen Offerte entschlüsselt werden kann, ohne
daß dies ausdrücklich gesagt werden muß. Ein weiteres Problem wirft die
‚Traumstrophe‘ (Strophe 4) auf, die in E nicht überliefert ist und die in den
übrigen Handschriften an letzter Stelle steht. Nach der Stellung in der
Überlieferung hat die ‚Traumstrophe‘ den Charakter einer nachgeschobenen
Erinnerung an das Liebesglück, das nun überraschend als ein nur im Traum erlebtes
Glück ausgewiesen wird. Inhaltlich aber schließt die ‚Traumstrophe‘ sich an
Strophe 3 an, indem die dort nur angedeutete sexuelle Erfahrung auf metaphorische
Ebene (Fall der Blumen) explizit gestaltet wird. Deshalb ist die Strophe hier, wie
in anderen Ausgaben auch, gegen die Überlieferung, in der sich möglicherweise eine
variable Aufführungspraxis spiegelt (Hahn), umgestellt. Die letzte Strophe greift
so mit der Situation des Tanzlieds wieder auf den Anfang zurück. Damit entsteht
ein geschlossener thematischer Rahmen, in welchen die ‚Traumstrophe‘ integriert
ist. In der Forschung ist verschiedentlich die Auffassung vertreten worden, daß
bei diesem Lied, das den sogenannten ‚Mädchenliedern‘ zugeordnet wird, die Gattung
der Pastourelle Modell gestanden habe, die Walther vermutlich aus der
mittellateinischen Lyrik kannte (vgl. auch das ‚Lindenlied‘, Nr. 160). Allerdings
hat Walther den ständischen Gegensatz, der für die Pastourelle konstitutiv ist
(ein Ritter oder Kleriker begegnet einer Hirtin), neutralisiert. Der soziale
Status des männlichen Ichs bleibt ebenso unbestimmt wie der der maget;
kennzeichnend für beide ist lediglich, daß sie nicht vermögend, daß sie ‚arm‘
sind. Umstritten ist, wie diese Umdeutung des Pastourellenschemas zu werten ist
und welche Signifikanz das Lied im Blick auf den Liebesdiskurs der Zeit hat.
Wapnewski vertritt die Auffassung, daß Walther für eine Aufhebung der
Standesgrenzen bei ‚echter‘ Liebe plädiert und damit seinem Protest gegen den
Hohen Sang Ausdruck verleiht, während Hahn der Meinung ist, daß in diesem Lied die
Werte der Hohen Minne nicht preisgegeben werden. Das vorrangige Interesse Walthers
hat, wie in anderen erotischen Liedern, vielleicht aber gerade darin bestanden,
die Erfahrung von Sexualität darzustellen und sie jenseits der Dichotomie von
Hoher und Niederer Minne als etwas Positives auszuweisen. Die kunstvollen Formen
der Vermittlung, die Walther einsetzt, um das Unsagbare sagbar zu machen
(Verwendung von Metaphern, Darstellung des Vorgangs als etwas Vergangenes, als
einen Traum), stützen eine solche These, während sich die Anbindung an den Diskurs
über die Hohe Minne auf den formalen Gestus ‚höfischen‘ Sprechens beschränkt.
1,1f.] Kränze erscheinen als Requisiten beim Tanz auch in der Lyrik Neidharts. Daß
Männer Kränze trugen, wird durch Eilhart von Oberge, hg. v.F. Lichtenstein,
Straßburg und London 1877, V. 9062, und Parzival 776,6f. bestätigt. 1,2 getânen]
AE, getaner C. 1,6 iur] ir CE, vwer A. 2,2 schapel] E, tschapel C, schappel A.
2,6:7 springent:singent] E, entsprvngen:svngen AC. Der Kontext verlangt die
Präsensformen. 3,2] Die unterschiedlichen Übersetzungen zeigen, wie unsicher die
Deutung von êre an dieser Stelle ist, vgl. z.B. „ganz so, wie es ein edles
Fräulein tut“ (Maurer, Walther), „Wie ein junges Mädchen, das wohlerzogen ist“
(Wapnewski, Walther), „wie ein Mädchen, das geehrt wird“ (Kuhn, Minnelieder
Walthers, S. 99). Der Kontext legt allerdings die Annahme nahe, daß hier das
(jungfräuliche) Schamgefühl des Mädchens gemeint ist. Die soziale und moralische
Bedeutungskomponente von êre dürfte im Zusammenhang mit der Annahme des ‚Kranzes‘
jedenfalls keine besondere Rolle spielen. Zu rechnen ist auch mit einem
kontrastiven Bezug auf das Thema wîbes êre in einigen Frauenliedern Reinmars. 3,4]
Der Vergleich mit Lilie und Rose ist topisch, vgl. Nr. 209,1,7. 4,1 nie] ie AC.
4,3 vielen] vieln C. 4,5 muoste] A, müeste C. 4,8 muos] mvoz C, muoze A. Der
Kontext verlangt das Präteritum. 4,8] Zum Motiv ‚Liebesglück im Traum‘ vgl. →
Traum. 5,1 von ir geschehen] geschen.von ir C. 5,5 gêt] Der höfische Tanz wurde
bloß getreten oder gegangen, der Reigen war dagegen von lebhafter Bewegung; er
wurde im Freien unter der Linde gesprungen. VARIANTE: 3,8 wirt] wart E.
LITERATUR:
Peter Wapnewski, Walthers Lied von der Traumliebe (74,20) und die
deutschsprachige Pastourelle, Euph. 51 (1957), S. 113-150, wieder in: Waz ist
minne, S. 109-154. Wolfgang Mohr, Vortragsform und Form als Symbol im
mittelalterlichen Liede, in: Festgabe U. Pretzel, hg. v. W. Simon u. a., Berlin
1963, S. 128-138. Harold B. Willson, Nemt, vrowe, disen kranz, Medium Aevum 34
(1965), S. 189-202. Ulrich Pretzel, Zu Walthers Mädchenliedern, in: Festschrift H.
de Boor, Tübingen 1966, S. 38-43. Gerhard Hahn, Walther von der Vogelweide. Nemt
vrowe, disen kranz (74,20), in: Interpretationen mittelhochdeutscher Lyrik, Bad
Homburg, Berlin und Zürich 1969, S. 205-226. Sabine Brinkmann, Die
deutschsprachige Pastourelle. 13. Bis 16. Jahrhundert, Göppingen 1985 (GAG 307),
S. 177-193.